Demenz nicht vom Ende her denken
10 SeMa: Frau Rohra, das Buch „Aus dem Schatten treten“, in dem Sie Ihren Weg beschreiben, ist 2012 erschienen. Wie geht es Ihnen heute? Rohra: Heute geht es mir in bestimmten Bereichen sogar besser, weil ich immer mehr gelernt habe, meine Einschrän- kungen anzunehmen und mir einen Sinn in meinem Leben gesucht habe. Ich habe Auftritte, rede mit Menschen, mache Mut und nehme ihnen die Angst. Das erfüllt meinen Tag und so kämpfe ich auch gegen meine Depression an. Demenz ist ja nicht nur der Verlust an Wissen und an vielen Fähigkei- ten, sondern es kommt auch eine große Trauer hinzu. Heute kann ich damit besser umgehen als früher. Am Anfang habe ich bei Vortägen traurig über mein Leben gesprochen. Dann habe ich so viele positive Beispiele in der Welt gesehen, dass ich etwas verändern möchte in Deutschland. Das geht nur, wenn die Betroffenen für ihre Rechte kämpfen. Da brauchen wir auch „dementia friends“, ob in Form eines guten Sozial- arbeiters oder engagierten Journalisten. SeMa: Es ist ja auch erst einmal ein Schreck, wenn man die Diagnose bekommt. Rohra: Es ist ein Schock, weil man damit nicht rechnet. Ich habe ein gutes medizinisches Wissen und hatte gar nicht mit dieser Diagnose gerechnet. Ich hatte anhand der Symp- tome zunächst mit einem kleinen Hirntumor gerechnet. SeMa: Sie bekommen sicher häufig die Frage gestellt, wann Sie die Erkrankung bemerkt haben. Das ist insofern interes- sant, weil viele Menschen Episoden kennen, in denen ihnen etwas nicht einfällt. Ab wann haben Sie es nicht mehr für normal gehalten? Rohra: Ich habe es erst gemerkt, als meine berufliche Rou- tine nicht mehr richtig lief. Ich war Dolmetscherin und hat- te spontan Wörter vergessen in den Fremdsprachen, dann auch die Grammatik. Hinzu traten dann auch Wortfin- dungsstörungen in der Muttersprache auf. Parallel kamen dann Orientierungsstörungen. Es passierte alles innerhalb weniger Monate. Man darf aber nicht gleich in Panik geraten, wenn man mal nicht weiß, wo man das Auto geparkt hat. Diese Angst muss man den Menschen nehmen. Jüngere Menschen, die an Demenz erkranken, merken es selbst, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Sie teilen sich aus Scham nicht mit und versuchen die Ausfälle zu kaschieren und zu vertuschen. Bei älteren Patienten bemerken es meist die Angehörigen, dass sich eine Demenz entwickelt. Man muss selber achtsam sein. Sich beobachten. Nicht Angst haben, sonst kann man nicht analysieren, was mit ei- nem ist. Das Nichtwissen macht Angst. Leider sagen viele: Ich gehe nicht zum Arzt. Wenn er sagt, ich habe Demenz, nehme ich mir das Leben. Ich sage dann immer: Du hast doch keine Demenz, nur weil du mal etwas vergisst. Warum bist du so ängstlich. Bei einer Demenz kommen ja mehrere Faktoren zusammen. SeMa: Sie haben viele Situationen gemeistert, die sich man- che Menschen ohne Demenz nicht trauen würden, so wie eine Reise allein nach Thessaloniki und Vorträge vor vielen Zuhörern. Woher nehmen Sie den Mut? Rohra: Den Mut nehme ich aus dem festen Glauben an mich. Mein 29-jähriger Sohn ist Asperger-Autist. Ich habe ihn durch viele Höhen und Tiefen begleitet. Er hat Abitur gemacht. Ich habe eine Mutmachgruppe geleitet für Eltern mit diesen besonderen Kindern. Ich habe immer anderen ge- zeigt, dass man es schaffen kann, wenn man an sich glaubt. SeMa: Wie haben Ihre familiäre Umgebung und Ihre Freun- de auf die Diagnose reagiert? Rohra: Also, meinem Sohn habe ich es recht spät gesagt, weil er damals kurz vor dem Abitur stand. Wir haben dann mal eine Sendung im Fernsehen geschaut und es wurde ein Seniorenheim gezeigt mit verwirrten älteren Menschen. Da habe ich ihm gesagt, dass ich auch so wie diese Menschen werde, weil ich eine Demenz habe. Er hat dann nur gesagt: „Aber Mama, wir sind doch ein gutes Team.“ Das hat mir Mut gemacht. Er hilft mir heutzutage und schreibt mir viel auf dem Computer, wenn ich Zusammenfassungen brauche von meinen Sitzungen. Wir sind sehr realistisch, was die Krankheit angeht. Wenn ich die Worte verwechsele oder verdrehe, notieren wir das. Ich habe auch Freunde, die diese offene Art mit tragen. Anderen Freunden macht das Thema Angst. Sie sind noch nicht bereit, über Demenz zu sprechen. Helga Rohra ist mit 54 Jahren an der Lewy-Körperchen-De- menz erkrankt. Dabei handelt es sich um die dritthäufigste Form der Demenzerkrankungen, die schon im jüngeren Le- bensalter beginnen kann. Heute ist Helga Rohra Demenz- aktivistin, wie sie sich selbst nennt. Sie ist erste Vorsitzende bei Trotzdemenz e.V., gewann 2014 den Deutschen Engage- mentpreis 2014 und ist seit 2015 Botschafterin für Interna- tionales Engagement. Interview mit Helga Rohra Demenz nicht vom Ende her denken